Kanban ist das Schweizer Taschenmesser der Wissensarbeit – Interview mit Dr. York Rössler
Woran denken Sie, wenn Sie den Begriff ‚Kanban‘ hören? Vielleicht an eine Tabelle auf die sich verschiedenfarbige Aufgabenkarten verteilen. Nach York Rössler haben Zettel in drei Spalten mit den Überschriften ‚zu tun‘, ‚in Arbeit‘ und ‚fertig‘ zu hängen rein gar nichts mit Kanban zu tun. Seit über 12 Jahren trainiert der promovierte Business Agility Berater in Unternehmen und an Universitäten die Kanban Methode.
Laut Rössler ist Kanban das Schweizer Taschenmesser für die Wissensarbeit. Wir hakten beim Projektmanagementexperten nach.
Hallo York: Starten wir mit einer Kurzauffrischung. Was ist Kanban in der Wissensarbeit?
Kanban ist eine Methode, um Wissensarbeit zu managen. Der entscheidende Punkt ist: Wir wollen einen möglichst konstanten Fluss der Arbeit sicherstellen.
Warum? Nun, wenn Arbeit fließt wird sie fertig und wenn sie fertig wird passieren drei hervorragende Dinge: erstens, Deine Kunden erhalten Wert, zweitens, Du generierst Cash Flow und drittens bekommst Du Feedack und kannst dich so verbessern und Deine Kunden noch glücklicher zu machen.
„Häufig wird versucht Scrum und Kanban zu vergleichen. Das ist aber keine so gute Idee, weil sich beide Ansätze einfach auf anderen Ebenen bewegen.“
Inzwischen agieren viele Business & IT-Teams nach dem Framework Scrum. Worin liegt der Zusatznutzen der Kanban Methode?
Häufig wird versucht Scrum und Kanban zu vergleichen. Das ist aber keine so gute Idee, weil sich beide Ansätze einfach auf anderen Ebenen bewegen. Scrum ist erstmal ein Team-Framework. Nicht umsonst spricht man ja vom Scrum-Team. Kanban optimiert Wertströme über Teams und Abteilungen hinweg. Bildlich gesprochen: Mit Kanban wollen wir Brücken zwischen den Kästchen des Organigramms bauen.
Auf der anderen Seite insinuiert das Anstellen eines Vergleichs, dass es sich um konkurrierende Ansätze handelt. Scrum und Kanban kann man aber auch hervorragend verbinden. Beispielsweise kann man auf der Mikroebene die Inhalte der Sprints mit Kanban besser organisieren oder auf der Makroebene kürzere Time-to-Market Zeiten über verschiedene Scrum-Teams hinweg erreichen. Deshalb wundert es mich auch nicht, dass an fast jedem Kanban-Training, das ich durchführe, auch einige Scrum Master teilnehmen.
Du bist einer von weltweit 300 akkreditierten Kanbantrainern. Mit welchen Mythen zu Kanban räumst Du regelmäßig in Deinen Trainings auf?
Hierzu zwei Anekdoten, die mir so tatsächlich mit Kunden passiert sind. Als ich vorgeschlagen habe Kanban auszuprobieren, wurde mir einmal geantwortet „Aber York, wir bauen doch keine Autos!“ und ein andermal „York, tut uns leid, aber wir bezahlen nicht Deinen Tagessatz, damit Du uns beibringst, wie man Post-its abreißt und an die Wand klebt.“. Diese zwei Mythen würde ich gerne auflösen.
Starten wir mit Mythos 1: Es gibt zwei verschiedene ‚Kanbans‘. Das ‚industrielle Kanban‘ ist tatsächlich in den 1940er und 50er Jahren in der japanischen Autoindustrie entstanden. Das Kanban für die Wissensarbeit, ich nenne es mal etwas salopp das ‚Büro-Kanban‘ ist in den 2000er Jahren entstanden und hat nur einige wenige Grundideen mit dem Industrie-Kanban gemein, in vielerlei Hinsicht ist es aber ganz anders, da ja auch die Anforderungen an die Wissensarbeit andere sind.
Jetzt zum Mythos 2: Für viele Leute ist Kanban gleichbedeutend mit einem Board mit Zetteln daran. Das ist aber nur eines von vielen Werkzeugen, die wir in Kanban verwenden. In Kanban geht es darum, Arbeit besser fließen zu lassen und mehr Kundennutzen zu erzielen. Die meisten Leute sind erstaunt, wenn sie merken, wie viele Aspekte und Techniken Kanban hat. Es geht zum Beispiel um Arbeitspriorisierung, Meetingformate, Metriken, Change Management und das Management von Abhängigkeiten, um nur einige Themen zu nennen. Um es abzukürzen: Zettel in drei Spalten mit den Überschriften ‚zu tun‘, ‚in Arbeit‘ und ‚fertig‘ zu hängen, hat mit Kanban nichts zu tun.
„Zettel in drei Spalten mit den Überschriften ‚zu tun‘, ‚in Arbeit‘ und ‚fertig‘ zu hängen, hat mit Kanban nichts zu tun.“
In welchen Situationen würdest Du abraten nach Kanban vorzugehen?
Hier gibt es tatsächlich zwei Szenarien:
1. Wenn die Arbeit sehr kleinteilig ist, zum Beispiel die Kundenkontakte in einem Call-Center. Dann ist der Aufwand des Erfassens einer Kundenanfrage auf einer Karte ggf. höher als die Abarbeitung der Anfrage selbst. Das wäre ineffizient. Man kann Kanban in diesem Fall aber im Second oder Third Level Support einsetzen, da sind die Aufgaben dann meistens umfangreicher.
2. Sehr große Aufgaben in einem weitgehend prädiktiven Umfeld. Hier könnte man umfangreiche Bauvorhaben oder Infrastrukturprojekte nennen. In diesem Fall würde ich eher auf das klassische Projektmanagement zurückgreifen. In solchen Projekten kann man aber zumindest Kanban-Techniken wie Standup-Meetings und Arbeitsvisualisierung ergänzend anwenden.
Bis jetzt haben wir uns darum gedrückt: Die Kanban Methode gibt vor Organisationen agil zu machen. Was bedeutet das konkret?
Jetzt stellst Du mir also die Gretchenfrage des Kanbans! Ist Kanban eigentlich agil? Du könntest jetzt gleich noch fragen, ob Kanban eine Projektmanagement-Methode ist! Meine Antwort wäre in beiden Fällen „Ja und nein“, weil beides aus Kanban-Sicht keine Rolle spielt.
Kanban beschreibt sich selbst zwar als Methode, in mancher Hinsicht ist es aber eher eine Philosophie, also eine grundsätzliche Überzeugung wie man mit Wissensarbeit umgehen sollte. Für Kanban ist es egal, ob Du das, was Du tust, als Projekt bezeichnest und ob das, was Du tust, sich in einem agilen Kontext abspielt.
Viele der Kanban-Einführungen, die ich begleiten durfte, haben agile Arbeitssystem hervorgebracht. Ich habe aber Kanban auch schon gänzlich ‚unagil‘ eingesetzt, z.B. im Vertrieb oder im Beschwerdemanagement. Diese beiden Anwendungsbeispiele haben übrigens auch ganz offensichtlich keinen Projektcharakter. In anderen Fällen werden Kanbansysteme aber verwendet, um Projekte zu managen.
„Für Kanban ist es egal, ob Du das, was Du tust, als Projekt bezeichnest und ob das, was Du tust, sich in einem agilen Kontext abspielt.“
Kommen wir nochmal auf die zwei von Dir beschriebenen Mythen zurückkommen: Glaubst Du, dass Kanban unterschätzt wird?
Ja, absolut. Daran sind wir in der Kanban Community aber selbst Schuld, weil wir es noch nicht geschafft haben, besser zu kommunizieren, dass Kanban sozusagen das Schweizer Taschenmesser des Managements der Wissensarbeit ist. Kanban ist unglaublich universell einsetzbar. Zum einen kannst Du es auf allen Ebenen verwenden, also nur für Dich allein, in Deinem Team, für eine Wertkette und sogar für das ganze Unternehmen bzw. für das Portfoliomanagement.
Die zweite Eigenschaft: Bei Agilität denken die meisten erstmal an IT. Und, na klar, du kannst Kanban natürlich in der Softwareentwicklung oder im IT-Support anwenden. Es funktioniert aber genauso gut in Marketing und Vertrieb, im Accounting und Controlling, im Personalwesen, bei F&E oder im Projektmanagement.
Kanban ist also wirklich auf jeder Ebene und in allen Bereichen eines Unternehmens einsetzbar und deshalb die vielfältigste aller agilen Methoden. Deshalb stoßen auch immer mehr Unternehmen auf Kanban. Wenn sie in der IT „agiles Blut geleckt haben“ wollen sie Agilität auch in anderen Unternehmensbereichen zum Einsatz bringen und merken, dass Kanban hier ein hervorragendes Angebot macht.
Letzte Frage: Wenn Du ein Buch für Kanban in der Wissensarbeit empfehlen würdest: Welches sollte es sein?
Da gibt es natürlich erstmal „Kanban: Evolutionäres Change Management für IT-Organisationen“ von David Anderson, dem Begründer von Kanban. Entgegen dem Titel sind die Inhalte aber auch gut außerhalb der IT anzuwenden. Hier wird es in Kürze eine stark überarbeitet Neuauflage geben, also vielleicht besser noch etwas warten.
Auch schon etwas älter, aber sehr gut ist „Kanban in der Praxis: Vom Teamfokus zur Wertschöpfung“ von Klaus Leopold.
Wenn Du im Schnelldurchlauf wissen willst, was Kanban ist, dann schau Dir mein YouTube-Video zum Thema Was ist Kanban an. Da erfährst Du in unter zwei Minuten was Kanban ist und welche Vorteile es hat.
Das Interview mit Dr. York Rössler führte Christopher Schulz per E-Mail am 06. März 2023.
„Kanban ist auf jeder Ebene und in allen Bereichen eines Unternehmens einsetzbar und deshalb die vielfältigste aller agilen Methoden.“
Zur Person Dr. York Rössler
Dr. York Rössler
Trainer, Coach und Berater
Als Trainer, Coach und Berater hilft York mit seinem Beratungsunternehmen Kunden im In- und Ausland in den Bereich Business Agility, Kanban, Scrum und Flight Levels nachhaltige Erfolge zu erzielen und den Herausforderungen eines volatilen Umfelds mit agilen Ansätzen zu begegnen. Seine Trainings zu Agilität haben bereits tausende Personen durchlaufen. Neben seiner Tätigkeit als Berater ist er an mehreren Universitäten als Gastdozent tätig.
Kanban: Evolutionäres Change Management für IT-Organisationen (Lesetipp von York Rössler)
dpunkt.verlag GmbH | 2011 | 302 Seiten | Print-ISBN: 978-3898647304
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