Citizen Development – die IT-Entwicklungskapazität im Unternehmen vervielfachen
Management Summary
- Citizen Development ist die Entwicklung von IT-Lösungen durch den Fachbereich ohne die dafür sonst erforderlichen Software Engineering und Programmierkenntnisse.
- Technischer Werkzeugkasten von Citizen Development sind Low-Code und No-Code Plattformen. Inzwischen ist diese einfach nutzbare Entwicklungssoftware sehr ausgereift und wird von namenhaften Softwareherstellern vorangetrieben.
- Knackpunkt bei Etablierung von Citizen Development ist die Governance. Beteiligten muss klar sein, welche Art von IT-Lösung autonom durch Business, begleitet von der IT oder vollständig unter Leitung der IT entwickelt und betrieben wird.
- Die Stärken von Citizen Development sind Geschwindigkeit gepaart mit Innovation. Dem gegenüber stehen das Risiko von Schatten-IT sowie ein wachsende Heterogenität im Applikationsportfolio.
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Was ist Citizen Development?
Bei Citizen Development übernimmt die Fachabteilung die Entwicklung und den Betrieb von einfach programmierbaren Softwareanwendungen. Nicht der ausgebildete und spezialisierte Informatiker, sondern der technisch versierte Fachabteilungsmitarbeiter – neudeutsch Citizen Developer (bzw. Creator oder Bürgerlicher Entwickler) – wird aktiv und übernimmt die Übersetzung seiner Business Anforderungen in schlüsselfertige IT-Lösungen.
Citizen Development befindet sich auf dem Vormarsch. In Zeiten knapp werdender IT-Personalkapazitäten (IT Supply) und wachsendem Digitalisierungsbedarf (Business Demand) stellt die Auslagerung von Entwicklungsaufgaben an das Business eine Möglichkeit der Entlastung dar. So berichtet Future Processing für Ende 2021 von weltweit 26,8 Mio. aktiven Softwareentwicklern und sieht einen Bedarf von 45 Mio. qualifizierten IT-Developers bis 2030.
2019 waren laut dem Marktforschungsinstitut Forrester 24 Prozent der Entwickler von Unternehmensanwendungen außerhalb der IT-Abteilungen angesiedelt. Die Kollegen von Gartner prognostizieren, dass bis 2023 die Zahl der Citizen Developer in Unternehmen mindestens viermal so groß sein wird wie die der professionellen Softwareentwickler.
In Folge wandern nicht nur das Innovations- und Anforderungsmanagement, sondern auch das Umsetzungs- und Betriebs-Knowhow technischer Lösungen weg von der zentralen IT in die dezentralen Fachabteilungen.
„Citizen Development befeuert die Digitale Transformation Ihres Unternehmens. Innovative IT-gestützte Produkte und Services lassen sich in Windeseile aufbauen und austesten. Die Zeit zwischen Idee und Umsetzung reduziert sich auf ein Minimum. People, Platform, Process und Portfolio gemeinsam mit dem Mandat des Top-IT-Managements – die 5 Bausteine Ihres Erfolgs.“
People
Cross-funktionale Teams mit befähigten und offenen Teilnehmern
Platform
Low/No-Code Softwareprodukt für eine agile Entwicklung
Process
Ende-zu-Ende Abläufe von der ersten Idee bis zum täglichen Betrieb
Portfolio
Budget für die Ausrichtung von Fachanforderungen auf IT-Lösungen
Welche Werkzeuge nutzt ein Citizen Developer?
Basis der Fachbereichsentwicklung sind sogenannte Low-Code und No-Code (LCNC) Plattformen. Statt klassischer Programmsprachen, den sogenannten Pro-Code Systemen, bieten diese standardisierten Werkzeuge grafische Modelle, vordefinierte Widgets, visuelle Eingaben, Bibliotheken von Standardfunktionen, wiederverwendbare Vorlagen und einfache Skriptsyntax mit denen die Citizen Developers ihre gewünschten Applikationsfunktionen schnell, kostengünstig und intuitiv in Eigenregie realisieren. Während No-Code Plattformen gänzlich ohne textbasierter Programmentwicklung auskommen, können Fachbereiche in Low-Code Apps selbstgeschriebene Code-Statements einflechten.
Kamen zunächst einfach Skript-Tools zum Einsatz, so decken moderne Cloud-basierte LCNC Plattformen heute den gesamten Lebenszyklus der Softwareentwicklung ab. Continuous Integration und Continuous Deployment werden ebenso unterstützt, wie Testing, Collaboration und Visualisierung. Der Zugang zu den Self-Service-Softwarewerkzeugen ist spielend einfach, die Methoden und Technologien umfassend dokumentiert.
Die Produktstrategie der Citizen Development Plattformhersteller ist klar. Je höher die Zahl der potentiellen Softwareentwickler und -nutzer in einem Unternehmen, desto größer auch die Menge der kostenpflichtigen Softwarelizenzen. Wenig verwunderlich tummeln sich inzwischen auch Branchengrößen wie Oracle mit Application Express (APEX), Microsoft mit der Power Platform sowie Google mit AppSheet im Markt. Daneben werkeln viele mittlere und kleine Anbieter wie Mendix, WEBCON oder smapOne, einige davon auch Open Source.
Forrester geht davon aus, dass der Markt für LCNC Plattformen bis einschließlich 2023 um 40 Prozent wachsen wird. Gartner prognostiziert, dass die Anwendungsentwicklung bis 2025 zu 70 Prozent mithilfe von No-Code und Low-Code-Tools erfolgt nachdem sie 2020 bei 25 Prozent lag. So investiert insbesondere Microsoft massiv in diese Technologien und berichtete bereits 2021, dass weltweit über eine halbe Millionen Unternehmen Low-Code-Tools von Microsoft nutzen, darunter 97 Prozent der Fortune 500-Unternehmen.
Zudem erweitern Hersteller ihre Low-/No-Code-Tools um Komponenten für Künstliche Intelligenz (KI). Diese Artificial Intelligence Addons erlauben Citizen Developern in natürlicher Sprache zu beschreiben, was eine App leisten können soll. Datenstrukturen, Benutzungsoberfläche und Ablauflogik werden dann von der KI generiert und können anschließend verfeinert und weiterentwickelt werden.
App DNA: Build apps with little or no-coding knowledge (3 min)
Seit wann gibt es Fachbereichsentwicklung?
Citizen Development ist kein neues Paradigma in den Unternehmen. Mit der Verbreitung von Personal Computern (PCs) und ihren Softwareprodukten in den 1980er Jahren begannen auch Fachabteilungen ihre eigenen kleinen IT-Anwendungen zu entwickeln und einzusetzen.
Herauszuheben ist Microsofts Excel inklusive seiner Skriptsprache Visual Basic for Applications (VBA). Speziell in den 1990er Jahren begannen die Geschäftsanwender IT-ferner Bereiche individuelle Softwarelösungen in VBA zu bauen und für ihre Geschäftsprozesse einzusetzen. Während der 2000er Jahren verlagerten die Fachabteilungen ihre Entwicklungsarbeiten dann auf Microsofts SharePoint. Bleiben wir beim Softwarehersteller aus Redmond, so vermarkt dieser heute seine Power Platform als Citizen Development Werkzeug.
Weitere Beispiele für frühe Citizen Development Initiativen ist das Visual Product Modeling System (VP/MS), eine Software für das Produktmanagement von Versicherungen. Kerngedanke war, die Fachabteilungen selbst das Regelwerk und die Berechnungslogik von Versicherungsprodukten implementieren zu lassen, statt beides umständlich in einem Pflichtenheft zu dokumentieren und auf die Umsetzung durch die IT-Abteilung zu warten.
Inzwischen haben Unternehmen, Softwarehersteller sowie insbesondere öffentliche Institutionen das Potential von Citizen Development erkannt. Neben standardisierten, exzellent dokumentierten und einfach bedienbaren LCNC Cloud-Plattformen stellen Hersteller durchdachte Trainingskonzepte sowie einen professionellen Support für die entwickelnden Fachbereiche bereit.
„Schulen Sie Ihre Citizen Developer. Jeder der Software baut, sollte die Grundlagen guten Software Engineerings & Operations können und die bereitgestellten Low/No-Code Lösungen einheitlich einsetzen. Im operativen Betrieb arbeiten Fachbereiche und IT eng zusammen. Falls sich ein Citizen-Werkzeug bewährt, kann diese später auf ein natives IT-System überführt werden.“
Wie lässt sich Citizen Development etablieren?
Ernennen Sie ein Citizen Development Kompetenzteam. Definieren und Kontrollieren Sie in dieser Governance Instanz strategisch, welche fachlichen Anwendungsfälle durch Citizen Development aufgebaut und betrieben werden können.
Das Project Management Institute (PMI) unterscheidet in seiner Citizen Developer™ Initiative zwischen drei Varianten der Umsetzung. Kriterien dabei sind die Technische Komplexität der IT-Lösung sowie das Realisierungsrisiko.
- Fast Track: Sind Risiko und Komplexität gering, arbeiten die Citizen Developer weitgehend eigenständig.
- Assisted: Stehen Risiko und Komplexität auf Mittel, obliegt die Verantwortung den Citizen Developern. Die IT wird regelmäßig zur Unterstützung, zu Reviews und bei Entscheidungen mit technischen Implikationen einbezogen.
- IT Delivery: Liegen Risiko und Komplexität beide hoch, sind die Citizen Developer Teil eines von der IT geführten Projektes. Auch liegen die Ergebnisverantwortung und der Betrieb vollständig bei den IT-Kollegen.
Stellen Sie zudem eine erprobte Entwicklungsplattform bereit. Dokumentieren Sie die aufgebauten Lösungen mit Bezeichnung, Datenumgang, Verantwortlichkeit, Entwicklungsprozess und Betrieb in einer Enterprise Architecture Management Software.
Gewinnen Sie Citizen Developer in der Breite Ihrer Organisation, beispielsweise durch Low-/No-Code Roadshows. Erarbeiten Sie ein eignes Skill-Profil „Citizen Developer“ gemeinsam mit den Fachbereichen und bleiben Sie im kontinuierlichen Kontakt mit diesen. Machen Sie Citizen Development damit über die Zeit zur schlagkräftigen Ergänzung Ihrer IT-Abteilung.
Worin bestehen die Stärken & Schwächen von Citizen Development?
Vorteile
- Citizen Development beschleunigt die (prototypische) Entwicklung neuer (innovativer) IT-Lösungen. Statt zunächst die Anforderungen der IT-Abteilung zu erklären und dann in langwierigen Abstimmungsschleifen zur Umsetzung zu bringen, helfen sich die Fachbereiche mit einer nutzerfreundlichen Baukastenlösung selbst. Bei der Verprobung des fachlichen Anwendungsfalls in Eigenregie entsteht unmittelbar Verständnis.
- Ob Digitalisierung von Papierformularen, der Automatisierung von Arbeitsabläufen oder der wiederkehrenden Erstellung von Echtzeitreports – vorhandene Baukastenwerkzeuge sind sehr flexible in ihrem Einsatzbereich. Änderungswünsche lassen sich mit den „Einfach einmal Machen“ Lösungen unmittelbar umsetzen.
- Der Ansatz entlastet die im Unternehmen zumeist knappen IT-Ressourcen. Die Softwareexperten können sich auf solche Aufgaben konzentrieren, die ihr über Jahre erworbenes technisches Spezialisten-Knowhow benötigen.
- Die Entwicklung mittels Low-Code und No-Code Plattformen fördert die Zufriedenheit der Fachabteilungen. Nicht nur ist die entwickelte IT-Lösung früher verfügbar und ist passgenau auf die Business Bedarfe ausgerichtet, die Fachkollegen haben das Resultat gleichsam selbst auf die Beine gestellt.
Nachteile
- Citizen Development kann zu Schatten-IT führen. Im Worst Case entstehen Insellösungen, die sich dem Konfigurationsmanagement der IT-Abteilung entziehen und parallel zu funktionsgleichen IT-Tools bestehen.
- Zudem besteht die Gefahr von technischen Schulden. Der entwickelnde Fachbereiche fokussiert einzig auf seinen konkreten Anwendungsfall. Der Kontext der Low-/No-Code App, ihre Erweiterbarkeit und Skalierung fallen allesamt unter den Tisch.
- Der Entwicklungsansatz birgt Risiken für die IT-Sicherheit. Bei den rasch zusammengebaute Softwarelösung wurde weder eine Informationsschutzbedarfsfeststellung und Datenschutzprüfung noch ein Penetration Testing unternommen.
- Mittel bis langfristig kann Citizen Development zu Kostennachteilen führen. Die ‚zusammengebastelte‘ Softwarelösung wird nur von einzelnen Fachbereichsvertretern beherrscht, eine übergreifende Qualitätssicherung fehlt.
- Bei viele Low-/No-Code Lösungen laufen die erstellten Apps ausschließlich auf der (in der Regel Cloud-)Plattform des Herstellers. Eine starke Abhängigkeit zum Hersteller besteht. Zudem lassen sich Architektur und Eigenschaften der Plattform nicht anpassen.
„Pilotieren Sie Citizen Development und die verfügbaren Entwicklungsplattformen in einem Business-IT-Projekt. Geeignet für einen Testballon sind Excel-getriebene Unterstützungsprozesse und neue fachliche Anwendungsgebiete. Nachdem sich die Low/No-Code Lösung nachweislich im Betrieb bewährt hat, skalieren Sie den Ansatz im Unternehmen.“
Fazit
Ob Prozessautomatisierung oder smartes Produktangebot – Citizen Development demokratisiert die Entwicklung und Bereitstellung von IT-Lösungen und ergänzt sich prima mit der klassischen professionellen Softwareentwicklung. Statt händeringend neue IT-Experten (weltweit) zu suchen, ist der Do-It-Yourself Ansatz auf Basis von Low-Code und Now-Code Plattformen eine Möglichkeit in Ihrem Unternehmen die Digitalisierung voranzutreiben.
Grundlage des Erfolgs ist eine enge Zusammenarbeit von Business und IT. Die neu gewonnenen Citizen Developer sind keine Belastung, Konkurrenz oder Entzauberung der klassischen Software Professionals, sondern eine sinnvolle Erweiterung der Entwicklungskapazitäten.
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Leseempfehlungen
- Blokdyk, G.: No Code Platforms A Complete Guide, 5STARCooks, 2021
- Casey, K.: Examining the low-code market’s race for citizen developers, TechTarget (letzter Abruf 15.01.2022)
- Deloitte Future Talk: Episode 152 – Digitalisierung mithilfe von Low-Code-Plattformen, Podcast 2023 (letzter Abruf: 14.03.2023)
- Deutschlandradio: IT-Trend Low-CodeEinfach programmieren mit Klicks und Kästchen, Podcast 2021 (letzter Abruf 15.01.2022)
- Friedrich, G.: Do it yourself – ist Citizen Development die Lösung für den Mangel an IT-Entwicklern?, 2021 (letzter Abruf: 30.08.2022)
- Koch, P.: Low-Code Anwendungen für die Prozessoptimierung – Interview mit Dirk Pohla, Podcast 2021 (letzter Abruf: 15.01.2022)
- Mleczko, A.: How many developers are there in the world in 2022?, Future Processing (letzter Abruf: 14.03.2023)
- Mines, C.: Predictions 2020 – More Changes For Software Development, Forester 2019 (letzter Abruf 15.01.2022)
- Project Management Institute: Citizen Development: The Handbook for Creators and Change Makers, 2021
- Wuttke, T.: No-Code Projekte und deren Limits, Podcast 2022 (letzter Abruf 15.01.2022)
- Wuttke, T.: Erfolg bei Dachser mit Citizen Development, Podcast 2022 (letzter Abruf: 08.04.2022)
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Dr. Christopher Schulz
Business Analyst, Enterprise Architect & Projektmanager
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